BGH, Urteil vom 06.06.2019 – I ZR 216/17 (Identitätsdiebstahl)
Leitsätze
a) Die Aufforderung zur Bezahlung nicht bestellter Dienstleistungen ist als irreführende geschäftliche Handlung im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 1 UWG anzusehen, wenn der angesprochene Verbraucher der Aufforderung die Behauptung entnimmt, er habe die Dienstleistung bestellt. Einer Unlauterkeit nach § 5 Abs. 1 Satz1 UWG steht nicht entgegen, dass der Unternehmer bei der Zahlungsaufforderung in der ihm nicht vorwerfbaren irrtümlichen Annahme einer tatsächlich vorliegenden Bestellung gehandelt hat.
b) Die Aufforderung zur Bezahlung nicht bestellter, aber erbrachter Dienstleistungen fällt auch dann unter Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG, wenn der Unternehmer irrtümlich von einer Bestellung ausgeht und der Irrtum seine Ursache nicht im Verantwortungsbereich des Unternehmers hat (Aufgabe von BGH, Urteil vom 17. August 2011 –I ZR 134/10, GRUR 2012, 82 Rn. 18 – Auftragsbestätigung
Tenor
Die Revision gegen das Urteil des 9. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Dezember 2017 wird auf Kosten der Beklagten zurückgewiesen.
Von Rechts wegen.
Tatbestand
Die Klägerin ist die Verbraucherzentrale Baden-Württemberg e.V. Sie ist ein in die Liste der qualifizierten Einrichtungen nach § 4 des Unterlassungsklagegesetzes eingetragener Verbraucherschutzverband. Die Beklagte betreibt E-Mail-Dienste.
Die Beklagte forderte einen Verbraucher mit Mahnschreiben vom 21. März 2016 unter Angabe einer Vertrags- und Rechnungsnummer zur Zahlung eines Betrags von 17,94 € zuzüglich Mahngebühren von 7,50 € auf. Es folgten weitere Zahlungsaufforderungen durch einen von der Beklagten beauftragten Inkassodienstleister am 19. April 2016 und 2. Mai 2016 sowie durch einen Rechtsanwalt am 17. Mai 2016.
Auf Nachfrage der Klägerin, an die sich der Verbraucher gewandt hatte, teilte der Kundenservice der Beklagten mit, dass mit den persönlichen Daten des Verbrauchers im November 2015 ein kostenpflichtiger „ProMail“-Vertrag abgeschlossen worden sei. Aufgrund der Schilderungen des Verbrauchers und eigener Prüfungen gehe man von einem sogenannten „Identitätsdiebstahl“ aus und habe die offenen Forderungen deshalb storniert sowie das Inkassoverfahren eingestellt. Eine solche Anmeldung durch Dritte lasse sich auch durch Sicherheitsvorkehrungen nicht ausschließen.
Die Klägerin hat geltend gemacht, weder habe der Verbraucher bei der Beklagten ein E-Mail-Konto bestellt noch liege ein Fall des von der Beklagten behaupteten „Identitätsdiebstahls“ vor, also der unbefugten Bestellung der Dienstleistung durch einen unbekannten Dritten unter Verwendung der persönlichen Daten des Verbrauchers. Die Beklagte habe vielmehr Zahlungsaufforderungen an den Verbraucher übersandt, obwohl die diesen zugrundeliegende Leistung nicht beauftragt worden sei.
Die Klägerin hat beantragt, es der Beklagten unter Androhung von Ordnungsmitteln zu untersagen,
an Verbraucher Zahlungsaufforderungen zu versenden bzw. versenden zu lassen, mit denen die Pflicht des Verbrauchers zur Zahlung einer Vergütung als Gegenleistung für eine Dienstleistung im Zusammenhang mit dem Betrieb eines kostenpflichtigen E-Mail-Kontos behauptet wird, obwohl der Verbraucher die Beklagte mit der Dienstleistung nicht beauftragt hat, wie geschehen gegenüber dem Verbraucher […]. (Anlagen K 2 und K 3).
Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten ist erfolglos geblieben. Mit der vom Senat zugelassenen Revision, deren Zurückweisung die Klägerin beantragt, verfolgt die Beklagte ihren Antrag auf Klageabweisung weiter.
Gründe
I. Das Berufungsgericht hat angenommen, der Klägerin stehe der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 UWG in Verbindung mit § 8 Abs. 1, 2 und 3 Nr. 3 UWG zu. Dazu hat es ausgeführt:
Die Beklagte habe eine nach § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 UWG unzulässige geschäftliche Handlung vorgenommen, indem sie dem Verbraucher insgesamt vier Zahlungsaufforderungen übersandt oder deren Versendung durch ein eingeschaltetes Inkassounternehmen und einen Anwalt veranlasst habe, obwohl der Verbraucher die diesen Zahlungsaufforderungen zugrundeliegende Dienstleistung – den kostenpflichtigen E-Mail-Dienst „ProMail“ – nicht bestellt habe. Mit den Zahlungsaufforderungen sei gegenüber dem Verbraucher jedenfalls sinngemäß behauptet worden, dieser habe den kostenpflichtigen E-Mail-Dienst bestellt, es sei also zu einem entsprechenden Vertragsschluss mit der Beklagten gekommen. Die Behauptung einer Bestellung und eines darauf beruhenden Vertragsschlusses unterfielen dem Tatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 UWG, weil darin eine Angabe über die Bedingungen zu sehen sei, unter denen die Dienstleistung erbracht werde. Diese Behauptung sei objektiv unwahr. Im Streitfall sei das Vorbringen der Klägerin, der Verbraucher habe zu keinem Zeitpunkt ein kostenpflichtiges „ProMail“-Konto eingerichtet, als wahr zu behandeln. Die mit den Zahlungsaufforderungen verbundene unwahre Angabe eines bestehenden Vertragsschlusses habe wettbewerbsrechtliche Relevanz, weil die Zahlungsaufforderungen geeignet gewesen seien, den Verbraucher zur Zahlung des verlangten Entgelts und damit zur Erfüllung des behaupteten Vertrages und so zu dessen Behandlung als wirksam zustande gekommen zu veranlassen.
Es könne offenbleiben, ob im Streitfall ein sogenannter Identitätsdiebstahl vorgelegen habe oder vielmehr eine bewusst wahrheitswidrige Behauptung einer Bestellung seitens der Beklagten. Im Rahmen von § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 Nr. 2 UWG komme es weder auf ein Verschulden noch auf eine Täuschungsabsicht des Unternehmers an. Die Irreführung setze kein subjektives Element voraus. Derjenige, dem eine – unverschuldete – irreführende geschäftliche Handlung vorgeworfen werde, könne sich zudem nicht damit verteidigen, dass sein Verhalten der unternehmerischen Sorgfalt im Sinne von § 2 Abs. 1 Nr. 7, § 3 Abs. 2 UWG entspreche. Es könne ferner nicht angenommen werden, die Auswirkungen eines Wettbewerbsverstoßes wie des hier in Rede stehenden seien unerheblich, weil es dem betroffenen Verbraucher leicht möglich sei, eine unberechtigte Zahlungsaufforderung zu identifizieren. Es sei allgemein bekannt, dass eine nicht zu vernachlässigende Zahl betroffener Verbraucher sich aus Unsicherheit über ein eigenes Fehlverhalten oder aus Angst vor vermeintlich drohenden rechtlichen Konsequenzen oder vor dem mit einer Intervention verbundenen Aufwand gegen derartige Mahnungen nicht wehrten und zahlten.
Die Zahlungsaufforderungen des beauftragten Inkassounternehmens seien der Beklagten gemäß § 8 Abs. 2 UWG zuzurechnen. Auch insoweit komme es auf einen möglichen Irrtum der Beklagten über das Vorliegen einer Bestellung des Verbrauchers nicht an.
II. Die Revision der Beklagten hat keinen Erfolg. Der Klägerin steht der geltend gemachte Unterlassungsanspruch aus § 3 Abs. 1, § 5 Abs. 1 Satz 1 und 2 UWG in Verbindung mit § 8 Abs. 1, 2 und 3 Nr. 3 UWG zu. Gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG handelt unlauter, wer eine irreführende geschäftliche Handlung vornimmt, die geeignet ist, den Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er anderenfalls nicht getroffen hätte. Eine geschäftliche Handlung ist gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 UWG irreführend, wenn sie unwahre Angaben (Fall 1) oder sonstige zur Täuschung geeignete Angaben über – nachfolgend aufgezählte – Umstände enthält (Fall 2).
1. Die Zahlungsaufforderungen der Beklagten und die ihr gemäß § 8 Abs. 2 UWG zuzurechnenden Zahlungsaufforderungen der beauftragten Inkassounternehmen und des Rechtsanwalts sind geschäftliche Handlungen im Sinne von § 5 Abs. 1 UWG. Gemäß § 2 Abs. 1 Nr. 1 UWG ist eine geschäftliche Handlung jedes Verhalten einer Person zugunsten des eigenen Unternehmens vor, bei oder nach einem Geschäftsabschluss, die mit der Durchführung eines Vertrags über Waren oder Dienstleistungen objektiv zusammenhängt.
a) Das Merkmal des objektiven Zusammenhangs ist funktional zu verstehen und setzt voraus, dass die Handlung bei objektiver Betrachtung auf die Beeinflussung der geschäftlichen Entscheidung der Verbraucher oder sonstigen Marktteilnehmer gerichtet ist. Eine geschäftliche Handlung kann auch in einem Verhalten liegen, das sich auf die geschäftliche Entscheidung von Verbrauchern im Rahmen eines bereits bestehenden Vertragsverhältnisses auswirkt (vgl. BGH, Urteil vom 10. Januar 2013 – I ZR 190/11, GRUR 2013, 945 Rn. 17 f., 26 = WRP 2013, 1183 – Standardisierte Mandatsbearbeitung; Urteil vom 25. April 2019 – I ZR 93/17, GRUR 2019, 754 Rn. 20 = WRP 2019, 883 – Prämiensparverträge).
b) Danach liegt der erforderliche objektive Zusammenhang vor. Mit den beanstandeten Aufforderungen verlangt die Beklagte eine Vergütung für ein angeblich vom angeschriebenen Verbraucher bestelltes kostenpflichtiges E-Mail-Konto und damit eine Dienstleistung. Dass Bezugspunkt einer geschäftlichen Handlung auch ein tatsächlich nicht bestehendes und lediglich behauptetes Vertragsverhältnis sein kann, ergibt sich aus Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG, wonach die Aufforderung zur Bezahlung nicht bestellter, aber erbrachter Dienstleistungen eine (unzulässige) geschäftliche Handlung ist.
3. Im Streitfall hat die Beklagte mit den Zahlungsaufforderungen unwahre Angaben im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 1 UWG gemacht.
a) Angaben sind Geschäftshandlungen mit Informationsgehalt, die sich auf Tatsachen und zur Täuschung des Durchschnittsverbrauchers geeignete Meinungsäußerungen beziehen (vgl. BGH, GRUR 2019, 754 Rn. 25 bis 29 – Prämiensparverträge). Gegenstand einer solchen Angabe kann die Erweckung des Eindrucks sein, eine Ware oder Dienstleistung sei vom Verbraucher bereits bestellt worden (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juni 2011 – I ZR 157/10, GRUR 2012, 184 Rn. 18 = WRP 2012, 194 – Branchenbuch Berg, mwN).
Danach liegt hier eine Angabe vor. Das Berufungsgericht hat angenommen, die Beklagte habe mit den Zahlungsaufforderungen gegenüber dem angeschriebenen Verbraucher jedenfalls sinngemäß behauptet, dieser habe den kostenpflichtigen E-Mail-Dienst „ProMail“ bestellt, es sei also zu einem entsprechenden Vertragsschluss mit der Beklagten gekommen.
b) Eine Angabe ist unwahr, wenn das Verständnis, das sie bei den Verkehrskreisen erweckt, an die sie sich richtet, mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht übereinstimmt. Für die Beurteilung kommt es darauf an, welchen Gesamteindruck sie bei den angesprochenen Verkehrskreisen hervorruft (st. Rspr.; vgl. nur BGH, Urteil vom 24. September 2013 – I ZR 89/12, GRUR 2013, 1254 Rn. 15 = WRP 2013, 1596 – Matratzen Factory Outlet; Urteil vom 21. April 2016 – I ZR 151/15, GRUR 2016, 1193 Rn. 20 = WRP 2016, 1354 – Ansprechpartner; Urteil vom 21. Juni 2018 – I ZR 157/16, GRUR 2018, 1263 Rn. 11 = WRP 2018, 1458 – Vollsynthetisches Motorenöl).
Nach diesen Grundsätzen ist die Angabe der Beklagten, der angeschriebene Verbraucher habe den kostenpflichtigen E-Mail-Dienst „ProMail“ bestellt, unwahr. Das Berufungsgericht hat rechtsfehlerfrei und von der Revision unbeanstandet angenommen, im Streitfall sei das Vorbringen der Klägerin, der Verbraucher habe zu keinem Zeitpunkt ein kostenpflichtiges ProMail-Konto eingerichtet, als wahr zu behandeln.
c) Offenbleiben kann, ob § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 UWG und die mit dieser Bestimmung umgesetzte Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 Fall 2 der Richtlinie 2005/29/EG einen abschließenden Katalog der Umstände enthält, über die zur Täuschung geeignete Angaben gemacht werden können, mit der Folge, dass eine irreführende Handlung vorliegt (vgl. zum Streitstand Pfeifer/Obergfell in Fezer/Büscher/Obergfell, UWG, 3. Aufl., § 5 UWG Rn. 270 mwN). Im Streitfall geht es um eine geschäftliche Handlung, die eine im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 1 UWG und Art. 6 Abs. 1 Fall 1 der Richtlinie 2005/29/EG unwahre Angabe enthält; eine solche geschäftliche Handlung kann auch dann im Sinne von § 5 Abs. 1 UWG und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG irreführend sein, wenn die Angabe keinen der in § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 und Art. 6 Abs. 1 Fall 2 der Richtlinie 2005/29/EG aufgeführten Umstände betrifft (BGH, Urteil vom 19. April 2018 – I ZR 244/16, GRUR 2018, 950 Rn. 41 = WRP 2018, 1069 – Namensangabe). Daher kommt es auch nicht auf die vom Berufungsgericht behandelte Problematik an, welcher Irreführungstatbestand im Sinne von § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 UWG und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG im Streitfall einschlägig ist und ob der von ihm angenommene Tatbestand des § 5 Abs. 1 Satz 2 Fall 2 Nr. 2 UWG im Verhältnis zwischen einem Unternehmer und einem Verbraucher gilt, obwohl Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG keinen entsprechenden Tatbestand enthält.
d) Ferner kann offenbleiben, ob auch unwahre Angaben zur Täuschung geeignet sein müssen (so Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen, UWG, 37. Aufl., § 5 Rn. 1.52; Sosnitza in Ohly/Sosnitza, UWG, 7. Aufl., § 5 Rn. 158; Sosnitza, WRP 2008, 1014, 1028; MünchKomm.UWG/Ruess, 2. Aufl., § 5 Rn. 161) oder ob bei unwahren Angaben das Erfordernis der Täuschungseignung entfällt (so Pfeifer/Obergfell in Fezer/Büscher/Obergfell aaO § 5 UWG Rn. 234; Dreyer in Harte/Henning, UWG, 3. Aufl., § 5 Rn. 144). Die Übersendung der Zahlungsaufforderungen durch und auf Veranlassung der Beklagten schloss aus der Sicht des angesprochenen Verbrauchers nicht nur die unwahre Behauptung einer Bestellung der in Rechnung gestellten Dienstleistung ein, sondern war darüber hinaus zur Täuschung des Verbrauchers geeignet (vgl. auch BGH, GRUR 2018, 950 Rn. 42 – Namensangabe).
4. Die unwahre Angabe ist ferner geeignet, den Verbraucher tatsächlich oder voraussichtlich zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er ansonsten nicht getroffen hätte.
a) Unlauter ist eine irreführende geschäftliche Handlung gemäß § 5 Abs. 1 Satz 1 UWG und Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG nur, wenn sie geeignet ist, den Durchschnittsverbraucher zu einer geschäftlichen Entscheidung zu veranlassen, die er andernfalls nicht getroffen hätte. Auf eine solche wettbewerbsrechtliche Relevanz der Irreführung kann zwar in der Regel aus dem Hervorrufen einer Fehlvorstellung geschlossen werden. Anders verhält es sich jedoch dann, wenn über Umstände getäuscht worden ist, die für das Marktverhalten der Gegenseite lediglich eine unwesentliche Bedeutung haben (BGH, GRUR 2018, 950 Rn. 43 – Namensangabe, mwN).
b) Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, die mit den Zahlungsaufforderungen verbundene unwahre Angabe eines bestehenden Vertragsschlusses sei geeignet gewesen, den angeschriebenen Verbraucher zur Zahlung des verlangten Entgelts und damit zur Erfüllung des behaupteten Vertrages und so zu dessen Behandlung als wirksam zustande gekommen zu veranlassen.
5. Das Berufungsgericht hat unterstellt, dass im Streitfall ein sogenannter „Identitätsdiebstahl“ vorliegt und die Beklagte bei den beanstandeten Zahlungsaufforderungen von einer tatsächlichen Bestellung des Verbrauchers ausgegangen ist. Es ist davon ausgegangen, dass dieser Umstand der Annahme einer unlauteren geschäftlichen Handlung im Sinne von § 5 Abs. 1 UWG nicht entgegensteht. Diese Beurteilung hält der rechtlichen Überprüfung stand.
a) Ein Irrtum des Unternehmers über den Umstand einer vorhergehenden Bestellung durch den zur Zahlung aufgeforderten Verbraucher ist im Rahmen der Prüfung der Unlauterkeit einer geschäftlichen Handlung unter dem Gesichtspunkt der Irreführung auch dann nicht zu seinen Gunsten zu berücksichtigen, wenn dieser Irrtum nicht vorwerfbar ist. Die Annahme einer irreführenden Handlung im Sinne von Art. 6 der Richtlinie 2005/29/EG setzt grundsätzlich nicht voraus, dass der Gewerbetreibende vorsätzlich eine objektiv falsche Angabe macht (EuGH, Urteil vom 16. April 2015 – C-388/13, GRUR 2015, 600 Rn. 47 bis 49 = WRP 2015, 698 – Ungarische Verbraucherschutzbehörde; Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen aaO § 5 Rn. 1.53). Ferner braucht bei einer Geschäftspraxis, die – wie im Streitfall – alle in Art. 6 Abs. 1 der Richtlinie 2005/29/EG genannten Voraussetzungen einer den Verbraucher irreführenden Praxis erfüllt, nicht mehr geprüft zu werden, ob eine solche Praxis auch den Erfordernissen der beruflichen Sorgfalt im Sinne von Art. 5 Abs. 2 der Richtlinie widerspricht, um sie als unlauter und mithin nach Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie verboten ansehen zu können (EuGH, Urteil vom 19. September 2013 – C-435/11, GRUR 2013, 1157 Rn. 42 bis 45 = WRP 2014, 38 – CHS Tour Services; EuGH, GRUR 2015, 600 Rn. 63 – Ungarische Verbraucherschutzbehörde; Bornkamm/Feddersen in Köhler/Bornkamm/Feddersen aaO § 5 Rn. 1.53).
b) Im Streitfall zwingt auch der Gesichtspunkt der Vermeidung von Wertungswidersprüchen zwischen dem Irreführungstatbestand nach § 5 Abs. 1 UWG und den besonderen Unlauterkeitstatbeständen des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG nicht zu einer abweichenden Beurteilung. Die Revision macht insoweit geltend, nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs sei auf der Grundlage der Annahme des Berufungsgerichts, nach der im Streitfall ein sogenannter „Identitätsdiebstahl“ vorliege und die Beklagte bei den beanstandeten Zahlungsaufforderungen von einer tatsächlichen Bestellung des Verbrauchers ausgegangen sei, der hier einschlägige Tatbestand des Anhangs Nr. 29 zu § 3 Abs. 3 UWG nicht erfüllt. Um Wertungswidersprüche zu vermeiden, könne für den Irreführungstatbestand nichts anderes gelten. Dem kann nicht zugestimmt werden.
aa) Die allgemeinen Vorschriften der Unlauterkeit wegen irreführender und aggressiver Geschäftspraktiken werden durch die spezielleren Tatbestände im Anhang zu § 3 Abs. 3 UWG nicht verdrängt, sondern lediglich ergänzt (BGH, Urteil vom 17. August 2011 – I ZR 134/10, GRUR 2012, 82 Rn. 16 = WRP 2012, 198 – Auftragsbestätigung, mwN). Der Rückgriff auf die allgemeinen Vorschriften ist damit nicht bereits deswegen versagt, weil die Frage der Unlauterkeit der im Anhang geregelten besonderen Geschäftspraktiken dort abschließend geregelt ist.
bb) Allerdings folgt daraus nicht, dass die im Anhang geregelten Tatbestände außerhalb ihres eigentlichen Anwendungsbereichs bedeutungslos wären. Im Rahmen der systematischen Gesetzesauslegung sind vielmehr grundsätzlich auch das Gesamtsystem des Lauterkeitsrechts und die sich daraus ergebenden Wertungen in den Blick zu nehmen. Danach ist es geboten, bei der Prüfung einer geschäftlichen Handlung anhand der allgemeinen Vorschriften der §§ 4 bis 6 UWG zu fragen, ob es gesetzlich geregelte Verbotstatbestände oder Regelbeispiele gibt, die zumindest einen ähnlichen Fall erfassen und damit einen wertenden Rückschluss erlauben, ob die entsprechende Verhaltensweise lauterkeitsrechtlich zu missbilligen ist oder nicht (MünchKomm.UWG/Alexander aaO Vorbemerkungen zu Anhang § 3 Rn. 64). Dementsprechend geht der Bundesgerichtshof davon aus, dass die Prüfung nach den allgemeinen Bestimmungen über unlautere Geschäftspraktiken nicht zu einem Wertungswiderspruch zu den speziellen Tatbeständen des Anhangs führen darf (vgl. beispielsweise zu einem Wertungswiderspruch infolge verschiedener Maßstäbe an das Verhalten des Werbenden gegenüber Verbrauchern und sonstigen Marktteilnehmern BGH, GRUR 2012, 184 Rn. 29 – Branchenbuch Berg; Köhler in Köhler/Bornkamm/ Feddersen aaO Anhang zu § 3 Rn. 0.12).
Ob nach diesen Grundsätzen auch ein Wertungswiderspruch zwischen dem Tatbestand des Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG und dem Irreführungstatbestand nach § 5 Abs. 1 UWG zu vermeiden ist, kann dahinstehen, weil das im Streitfall in Rede stehende Verhalten auch nach Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG unlauter ist.
(1) Gemäß Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG stellt die Aufforderung zur Bezahlung nicht bestellter, aber gelieferter Waren oder erbrachter Dienstleistungen oder eine Aufforderung zur Rücksendung oder Aufbewahrung nicht bestellter Sachen eine stets unzulässige geschäftliche Handlung dar.
(2) Nach den von der Revision nicht beanstandeten Feststellungen des Berufungsgerichts hat die Beklagte selbst sowie das von ihr im Sinne von § 8 Abs. 2 UWG beauftragte Inkassounternehmen den Verbraucher zur Bezahlung der von diesem nicht bestellten, von der Beklagten aber zuvor tatsächlich eingerichteten E-Mail-Dienstleistung „ProMail“ aufgefordert. Damit liegen – was auch die Revision nicht in Abrede stellt – die in Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG geregelten objektiven Voraussetzungen einer stets unzulässigen geschäftlichen Handlung vor.
(3) Allerdings hat der Bundesgerichtshof entschieden, dass die Voraussetzungen von Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG nicht erfüllt sind, wenn der Unternehmer irrtümlich von einer Bestellung ausgeht und der Irrtum seine Ursache nicht in seinem Verantwortungsbereich hat, weil die Ware beispielsweise von einem Dritten unter dem Namen des Belieferten bestellt worden ist oder wenn unter derselben Adresse mehrere Personen gleichen Namens wohnen (BGH, GRUR 2012, 82 Rn. 18 – Auftragsbestätigung; ebenso JurisPK.UWG/Koch, Stand 1. Mai 2016, Anhang zu § 3 Abs. 3 Nr. 29 Rn. 5; Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen aaO Anhang zu § 3 Abs. 3 Rn. 29.8; Schöler in Harte/Henning, UWG, 4. Aufl., Anhang zu § 3 Nr. 29 Rn. 6; Mankowski in Fezer/Büscher/ Obergfell aaO Anhang UWG Nr. 29 Rn. 4c; GroßKomm.UWG/Pahlow, 2. Aufl., § 3 (E) Anhang Nr. 29 Rn. 12; Scherer, WRP 2012, 139, 140).
(4) An dieser Ansicht hält der Senat nicht fest. Für die Annahme einer unzulässigen geschäftlichen Handlung gemäß Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG ist es vielmehr unerheblich, ob der Unternehmer irrtümlich von einer Bestellung des Verbrauchers ausgeht (vgl. Sosnitza in Ohly/Sosnitza aaO Anhang zu § 3 Abs. 3 Rn. 77; OLG Stuttgart, Urteil vom 1. Juli 2010 – 2 U 96/09, juris Rn. 32).
Der Lauterkeitsverstoß gemäß Nr. 29 des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG ist nach dem Wortlaut der Bestimmung objektiv zu beurteilen (Sosnitza in Ohly/Sosnitza aaO Anhang zu § 3 Abs. 3 Rn. 77; OLG Stuttgart, Urteil vom 1. Juli 2010 – 2 U 96/09, juris Rn. 32). Die Vorschrift stellt auf die objektive Handlung des Unternehmers und die in ihr angelegte Drucksituation für den Verbraucher ab und verbietet diese Handlung per se.
Einzelfallabwägungen, auch solche über Irrtum und Verschulden des Unternehmers, sind ausgeschlossen, weil solche Gesichtspunkte an der unzumutbaren Belästigung des Verbrauchers nichts ändern, sondern nur zu einer der Rechtssicherheit abträglichen Motivforschungen beim Unternehmer führen (OLG Stuttgart, Urteil vom 1. Juli 2010 – 2 U 96/09, juris Rn. 32). Der bei der Auslegung des Anhangs zu § 3 Abs. 3 UWG zu berücksichtigende Anhang I zu Art. 5 Abs. 5 der Richtlinie 2005/29/EG enthält eine Liste jener Geschäftspraktiken, die unter allen Umständen als unlauter anzusehen sind. Diese Liste gilt einheitlich in allen Mitgliedstaaten und kann nur durch eine Änderung der Richtlinie abgeändert werden. Gemäß Erwägungsgrund 17 enthält der Anhang I der Richtlinie im Interesse der Schaffung größerer Rechtssicherheit eine Liste solcher Geschäftspraktiken, die ohne eine Beurteilung des Einzelfalls anhand der Bestimmungen der Artikel 5 bis 9 als unlauter gelten können (vgl. EuGH, Urteil vom 13. September 2018 – C-54/17, C-55/17, GRUR 2018, 1156 Rn. 40 = WRP 2018, 1304 – AGCM). Diesem Ziel der Schaffung größtmöglicher Rechtssicherheit durch absolute Verbote ohne Beurteilung der Umstände des Einzelfalls steht es entgegen, die Unzulässigkeit einer Geschäftspraxis über den Wortlaut einer im Anhang I der Richtlinie 2005/29/EG geregelten Handlung hinausgehend unter Berücksichtigung des Motivs des Gewerbetreibenden oder von Verschuldenskriterien – wie der Vorhersehbarkeit und Vermeidbarkeit von missbräuchlichen Bestellungen Dritter im Namen des Verbrauchers oder der Zugehörigkeit eines solchen Missbrauchs zur Sphäre des Gewerbetreibenden – zu bestimmen.
Außerdem ist bei der Auslegung des Tatbestands der Nr. 29 des Anhangs I der Richtlinie 2005/29/EG zu berücksichtigen, dass der Zweck der Richtlinie unter anderem in der Erreichung eines hohen Verbraucherschutzniveaus besteht. Das Ziel, die Verbraucher umfassend vor unlauteren Geschäftspraktiken zu schützen, beruht auf dem Umstand, dass sich ein Verbraucher im Vergleich zu einem Gewerbetreibenden insbesondere hinsichtlich des Informationsniveaus in einer unterlegenen Position befindet (vgl. EuGH, GRUR 2018, 1156 Rn. 54 – AGCM). Überdies sind die Bestimmungen der Richtlinie 2005/29/EG im Wesentlichen aus der Sicht des Verbrauchers als eines Adressats und Opfers unlauterer Geschäftspraktiken konzipiert (EuGH, GRUR 2015, 600 Rn. 52 – Ungarische Verbraucherschutzbehörde). Auch diese Umstände sprechen dafür, allein auf die Belästigung des Verbrauchers abzustellen, die durch eine unberechtigte Zahlungsaufforderung unabhängig davon verursacht wird, ob dem Gewerbetreibenden das Fehlen einer Bestellung des Verbrauchers bewusst ist.
Aus Art. 9 Buchst. c der Richtlinie 2005/29/EG, der ein bewusstes Handeln des Gewerbetreibenden voraussetzt, kann kein Erfordernis einer Kenntnis des Gewerbetreibenden von einer fehlenden Bestellung abgeleitet werden. Dieser Tatbestand betrifft bestimmte Verhaltensweisen des Gewerbetreibenden, die auf eine aggressive Geschäftspraktik schließen lassen können, wie das bewusste Ausnutzen von konkreten Unglückssituationen; ihm kann nicht entnommen werden, dass bei aggressiven Geschäftspraktiken stets ein subjektives Element gegeben sein muss (vgl. Sosnitza in Ohly/Sosnitza aaO Anhang zu § 3 Abs. 3 Rn. 77; aA Köhler in Köhler/Bornkamm/Feddersen aaO Anhang zu § 3 Abs. 3 Rn. 29.8; ders. in GRUR 2012, 217, 223; vgl. auch Mankowski in Fezer/Büscher/Obergfell aaO Anhang UWG Nr. 29 Rn. 4c).
III. Eine Vorlage an den Gerichtshof der Europäischen Union nach Art. 267 Abs. 1 Buchst. b und Abs. 3 AEUV ist nicht veranlasst (vgl. EuGH, Urteil vom 6. Oktober 1982 – 283/81, Slg. 1982, 3415 Rn. 21 = NJW 1983, 1257 Rn. 21 – C.I.L.F.I.T.; Urteil vom 1. Oktober 2015 – C-452/14, GRUR Int. 2015, 1152 Rn. 43 – Doc Generici). Im Streitfall stellt sich keine entscheidungserhebliche Frage zur Auslegung des Unionsrechts, die nicht zweifelsfrei zu beantworten ist.
IV. Danach ist die Revision der Beklagten zurückzuweisen. Die Kostenentscheidung folgt aus § 97 Abs. 1 ZPO.
Vorinstanzen
LG Koblenz, Entscheidung vom 02.05.2017 – 1 HKO 85/16
OLG Koblenz, Entscheidung vom 06.12.2017 – 9 U 589/17